![]() Mont Aiguille von NW; Normalweg hinter Baum (Ausst.kamin re.o.), Abst. am Pfeiler re. v. Baum |
1492:Hier fing alles an, nämlich im Juni anno Domini 1492, als der Söldnerführer Antoi- ne de Ville den Mont Aiguille bestieg. Die Entdeckung einer neuen, schönen Welt, der Welt der Vertikalen - die Geburtsstunde des Felskletterns vor 500 Jahren. Links und unten: Der Mont Aiguille, eines der sieben Wunder der Dauphiné. Fotos: D. Castellino |
Dies schrieb der königliche Söldnerführer Antoine de Ville, nachdem er im Auftrag Karl VIII. von Frankreich das Gipfelplateau
des Mont Aiguille erreicht hatte. Dieser 2097 Meter hohe Tafelberg, dessen Wände nach allen Seiten senkrecht abfallen, galt als
eines der sieben Wunder der Dauphiné. Der Gipfel als unbesteigbar! Neun Mann hoch, darunter der kaiserliche Kammerherr
Julien de Beaupré und zwei Priester, hatten die königlichen Söldner den Mythos der Unbesteigbarkeit zerstört und die
Siegesnachricht durch einen Boten an das Parlament in Grenoble geschickt. Dies geschah 1492, dem Jahr, als Amerika entdeckt
wurde... Mit dem Beginn der Neuzeit beginnt also auch die Geschichte des Kletterns in der Vertikalen. Es sollte eine Geschichte
der ständigen Steigerung werden, wie eine Spirale, immer ausgefallenere Ziele mit immer verfeinerten Techniken der Eroberung.
Aber auch eine Ge- schichte zerstörter Mythen. Daß etwa 50 Prozent der Besessenen, jener »Heiden«, die An- toine de Ville in
die Vertikale folgten und die Klettergeschichte bestimmten, den Tod am Berg fanden, entspricht dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit.
Das Spiel an der Grenze des Menschenmöglichen muß hoch oben in der Wand todesintensiv sein, so lange der Mensch die
Schwerkraft nicht aufheben kann. Die andere Hälfte der Akteure, die ihre Klettertour überlebten, war nicht besser als die
Abgestürzten, sie hatten nur mehr Glück. Gleichzeitig auch Pech! Denn »wahre Helden sterben jung!« Winkler, Preuß oder Buhl
wären heute keine legendären Figuren, wären sie als alte Männer im Bett gestorben oder lebten sie gar noch.
500 Jahre nach den Erstbesteigern trieb mich jene Neugier zum Mont Aiguille, die neben meinem Ehrgeiz immer eine wesentliche
Triebfeder gewesen war, in senkrechten Felswänden herumzuklettern. Auch die Neugier auf die Geschichte des Bergsteigens.
Ich wollte über die "De-Ville-Route", die heute mit Drahtseilen und Eisenklammern gesichert ist, auf diesen unzugänglichen Berg
steigen, um nachempfinden zu können, was Menschen in der Zeit der Renaissance in die Vertikale trieb. Der Anblick des Mont
Aiguille von Osten ist beeindruckend. Alle anderen Berge der Umgebung erscheinen besteigbar. Warum beauftragte König Karl
VIII., der gerade auf dem Weg nach Italien war, seine Männer, ausgerechnet diesen unmöglichen Felsklotz zu versuchen? Aus
einer Laune heraus? Sicher nicht. Aus Neugierde? Dann wäre er selbst hinaufgestiegen. Aus Eroberungslust? Vielleicht. Mit dem
Beginn der Neuzeit wuchs das abendländische Eroberungsdenken explosionsartig. Der Mensch wollte sich die Erde endgültig
untertan machen. Diese Lebenshaltung verstanden die Europäer als religiösen Auftrag. In de Villes Bericht finde ich keine Spur
jener Freude, die Petrarca beim Aufstieg auf den Mont Ventoux beseelt haben mag. Da war ein Eroberer, ein Tabubrecher, ein
Söldnerführer an sein Ziel gekommen. Ein Held. Obwohl Antoine de Ville zufällig zur Rolle des »ersten Kletterers« kam, füllte er
sie ganz aus. Wie ein Musterschüler. Trotz der Anstrengungen, der für die damalige Zeit extremen Kletterschwierigkeiten, der
Probleme in der Mannschaft, er überwand alle Hindernisse und erreichte sein Ziel. Es war ihm dabei nicht um eine Entdeckung
gegangen, auch nicht um die Erforschung des Berges oder seine Erschließung. Nein, er warnte sogar alle potentiellen Nachahmer vor einer Besteigung. Die Eroberung an sich war wichtig gewesen und sonst nichts, der Aufstieg als geheiligte Tat wie die Schlacht. So ist es nicht verwunderlich, daß erst 1834 eine zweite Besteigung des Mont Aiguille durchgeführt wurde. Der Schäfer Jean Liotard bestieg den Berg, vermutlich auf der Suche nach verlorenen Lämmern.
Obwohl die Route der Erstbesteiger heute markiert und stellenweise entschärft ist, bleibt sie schwierig. Links der großen Schlucht
stieg ich über steile Felsen aufwärts und querte schräg nach rechts. über Steilstufen und zwei weitere Quergänge kletterte ich,
stellenweise recht luftig, bis unter einen 100 Meter hohen Kamin, der streckenweise glatt und überhängend ist. Mein Respekt vor
den Erstbegehern wuchs, und ich fragte mich, wie sie hier ihre Leitern wohl befestigt hatten!...
... Wenn ich auf den Spuren der alpinen Geschichte kletterte, wie jetzt am Mont Aiguille, war ich neugierig: anfangs auf die
Kletterfähigkeiten der Alpinisten vor 500, vor 100, vor 10 Jahren. Später kam der Wunsch dazu, die Psyche meiner Vorgänger
zu durchschauen, ihre Widersprüche zu begreifen. Alles zu hinterfragen war genau so wichtig geworden wie überall
hinaufzukommen.
Der Himmel über dem Mont Aiguille: Fast berührten die Wolken die Erde. Sie hingen so tief, daß nur ein schmaler Streifen blieb
zwischen dem Gewölk und dem unversehrten, hügeligen Bergland ringsum. Eine Stimmung wie vor einem Wetterumschlag. Stille
Dörfer da und dort, die Weite des Hinterlandes schier unerschöpflich. Der Massentourisrnus ist bis hierher noch nicht
durchgedrungen.
Antoine de Ville muß sich erhaben vorgekommen sein: Als erster hier oben und herausgehoben aus dem Tiefland. Erhaben ist in
seinem Bericht der Mensch und nicht die Natur. Als Helden fühlten sich die Erstbesteiger wohl auch, weil sie ein Stück der
unzugänglichsten Welt dem Menschen untertan gemacht hatten, wie es die Bibel befahl. Ein Feind war besiegt....